Darf man Replikas gut finden?

6 Jahre, 10 Monate her - 20 Februar 2018, AutoBild
Darf man Replikas gut finden?
Manch nachgebauter Klassiker kommt dem Original sehr nahe. Trotzdem akzeptieren viele Liebhaber diese Autos nicht. Dazu zwei Meinungen!

"Replikas geben sich volkstümlicher!"

Besonderer Geschmack ist atemberaubend teuer. Dieses Gesetz gilt bei Oldtimern genauso wie bei Möbel- oder Uhrenklassikern, mit nur wenigen Ausnahmen. Replikas berühmter Traumwagen sind für mich eine spannende Alternative zu den unbezahlbaren Originalen, denn sie bieten das visuelle Erlebnis automobiler  Formvollendung ohne elitäre Attitüde. Natürlich gab es auch beschämende Ausfälle - etwa, wenn auf groben Gitterrohrrahmen mit asthmatischen Euro-V6-Motoren Supersportwagen aus Bauschaum und Glasfaserspachtel nachgebildet wurden. Abgesehen von solchen unwürdigen Entgleisungen sind Replikas jedoch eine interessante,weil volkstümliche Alternative zu handverlesenen Raritäten. Ganz nebenbei sind sie auch zum Fahren nicht zu schade und in dieser Disziplin meistens viel zuverlässiger als ihre fragilen Design-Vorbilder. Oldtimerfreunde, die nun laut Fälschung oder gar Verrat schreien, weigern sich den Sinn und Zweck von Replikas zu verstehen: Am Ende geht es doch nur darum, den völlig abgehobenen Teil des Altblech-Hobbys dezent zu demokratisieren und nahbarer zu machen. Keine der nachgebauten Ikonen wird jemals den Wert des seltenen Originals mindern, weder den historischen noch den monetären. Im Gegenteil: Replikas sind eine (meist vierrädrige) Hommage im Maßstab 1:1, die bei regelmäßiger Nutzung unkomplizierter und dadurch vergnüglicher sein kann als das Original.

"Die Kälte der Retorten stößt mich ab"

Ein paar Straßen weiter bauen sie: Bauhausvillen und Toskanahäuser, je nach Geschmack und Budget. Sie verkaufen sich gut, den Leuten ist es anscheinend egal, dass ihr Toskanahaus am Hamburger Stadtrand steht und die Bauhausvilla so viel mit den Vorbildern der 1920er Jahre zu tun hat wie ein Immobilienmakler mit der Caritas. Sorry, aber ich könnte nicht mit einer Lüge wohnen. Und ich will keine billige Kopie eines Autos fahren, das ich mir nicht leisten kann. Sicher, es lebt sich gar nicht schlecht in der Geschmacksverirrung vom Bauträger. Die Kitsch-Roadster der Kopisten fahren womöglich auch besser als die Originale. Und drinnen sitzen stolze Tölpel, die sich über ihr Vollkasko-Schnäppchen freuen, statt ein altes Auto als Gesamtkunstwerk mit eigener Geschichte und originalen Schwachstellen zu begreifen. Sie werden niemals erahnen, was vor Jahrzehnten der Erstbesitzer fühlte, dessen Name in Tintenschrift ganz vorn im Pappdeckel-Brief steht. Stattdessen reicht es ihnen, einsamer Hauptdarsteller ihres eigenen Auto-Kopfkinos zu sein. Ganz ohne die Ansprüche, die ein echter Oldtimer stellt. Hauptsache, es sieht so aus wie das Original. Das ist, sorry, wirklich arm - und damit meine ich nicht den Kontostand. Doch selbst die versöhnlich stimmende Tatsache, dass ich mir als Normalo eine Design-Ikone leisten kann, tröstet mich nicht über die Künstlichkeit und Kälte des Retorten-Klassikers hinweg. 

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